Der Freiheitsgedanke und die Konstituierung einer friesischen Identität im 19. Jahrhundert (1)

Duc d’Alfs uitluiding, Antwerpen 1575-1600 (Fries Museum, Leeuwarden)

Duc d’Alfs uitluiding, Antwerpen 1575-1600 (Fries Museum, Leeuwarden)

Vortrag zum 7. Historiker-Treffen des Nordfriisk Instituuts

Husum, den 19. Oktober 2012

(ohne Amerkungen )
(erschienen in: Harry Kunz, Fiete Pingel und Thomas Steensen (Hg.), Die “freien Friesen”; Geschichte und Perspektiven der Selbstverwaltung in den Frieslanden; Beiträge von der Konferenz: Die “freien Friesen” im 21. Jahrhundert; Geschichtsbilder, Traditionen und Selbstverständnis der friesischen Volksgruppe in Deutschland, 7. Historiker-Treffen des Nordfriisk Instituut, Bredstedt 2013, S. 79-92)

Fast ein Vierteljahrhundert ist seit dem ersten gemeinsamen Historikertreffen zum Thema der friesischen Freiheit vergangen. Die Kulturlandschaft hat sich in diesen Jahren stark verändert, die Forschungslandschaft vielleicht noch mehr. Die damaligen Vorträge – wie skizzenhaft sie auch waren – haben mich als jungen Forscher stark beeindruckt. Zu meinem Leidwesen musste ich erkennen, dass ich bei meinen eigenen Streifzügen in die Sozial- und Kulturgeschichte der Nordseemarschen größtenteils auf eigene Initiative angewiesen war. Es lagen damals nur wenige aktuelle Regionalmonografien vor, und diese beschränkten sich meistens auf das Mittelalter. Darüber hinaus wurden jene Küstengegenden, deren Einwohner sich nicht als Friesen empfanden oder sich nicht auf eine friesische Vorgeschichte berufen konnten, in der Forschung weitgehend ignoriert.

Das alles hat sich stark geändert. Fast jede Küstenregion verfügt jetzt über ihre eigenen historischen Handbücher, und auch die landesgeschichtliche Forschung, insbesondere die sozialgeschichtlich angelegte Arbeit, wurde gerade in den 1990er-Jahren stark vorangetrieben. Die Studien der frühen Neuzeit, der Moderne und sogar der Zeitgeschichte boten zahlreiche neue Forschungsperspektiven, die häufig aufgenommen wurden.
Dennoch ist mein Urteil durchaus differenziert. Die Barrieren zwischen den unterschiedlichen landes- und nationalgeschichtlichen Traditionen sind nach wie vor groß, und die Zahl der wissenschaftlichen und Laienforscher, die sich über die Landesgrenzen hinaus in die Nachbarräume begeben, ohne sich sofort in die Weite der international vergleichenden Forschung zu stürzen, ist beschränkt. Um nur eine Forschungslücke zu nennen: Es fehlt – trotz des Zustroms an romantisch angehauchten Heimatheften und Bilderbüchern – immer noch eine länderübergreifende Sozial- und Kulturgeschichte der Nordseeinseln. Auch institutionell ist die grenzüberschreitende Forschung dürftig verankert. Die Landes-, Provinz- und Universitätsbibliotheken empfinden das Aufspüren und den Einkauf von ausländischen Publikationen immer mehr als eine schwer zu bewältigende Last; verschiedene Forschungsinstitutionen vernachlässigen die soziokulturellen Bedürfnisse ihres direkten Umfelds (man braucht hier nur an die Lage der Marschenarchäologie in Schleswig-Holstein zu denken), und auch die bisweilen störende Unkenntnis von Sprache und Kultur der Nachbarländer hemmt – wenigstens in den Niederlanden und vielleicht noch mehr als vor einigen Jahrzehnten – die gegenseitige Verständigung. Darüber hinaus lässt sich im Rückblick wohl mit Recht behaupten, dass die langjährige Fokussierung auf die friesischen Regionalsprachen (die untereinander nur schwer verständlich sind) und die kühne Annahme einer gemeinsamen friesischen Kultur sowohl als Trennlinie dienten, als dass sie die unterschiedlichen Küstenregionen auch wirklich verbunden haben.
Wir sollten darüber aber nicht enttäuscht sein. Es ist noch nichts schiefgegangen. Das wissenschaftliche Interesse für die Nordseeküste war ein Projekt der Moderne und eng mit Aufstieg und Niedergang dieser Gegend als agrarischer Kernregion verknüpft. Die Beschäftigung mit friesischer Sprache und Kultur war ein Emanzipationsprojekt, das weitgehend mit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Integration der Küstenbezirke in die sich entwickelnden Nationalstaaten und Weltmärkte verbunden war. Die Nordseemarschen sind nicht allein in die Peripherie gerückt, auch die Moderne ist vorüber. Unsere Zeit ist ein Zeitalter der Flickenteppiche, der Quilts und Patchworks, der Collagen und Bricolagen, der Hybridisierung und Hybridität, der Kreolisierung und des Synkretismus (so die Ethnologin Ina-Maria Greverus). Es ist eine Zeit sowohl der Vielstimmigkeit als auch der Stille, der Sinnferne wie auch der Sinngebung, des Vergessens wie der Wiederentdeckung natürlicher, körperlicher und geistiger Ressourcen. Der Buddha auf dem Nordseestrand, friesische Töchter in einem neuen Stadtdschungel, Pharisäer und Bohnensopp im weltweiten Web bieten frei verfügbare Bilder für jeden, der seine selbstbehauptete Identität damit weiter untermauern möchte. Die Nordseeküste bildet ein reichhaltiges kulturelles Biotop; sie zeichnet sich aus durch eine Fülle an materiellen, kulturellen und sozialen Anregungen. Wir sollten uns besinnen auf dieses Grundmaterial, dann könnte gerade die vergleichende Forschung, die Suche nach kleinen Unterschieden mit weitreichenden Konsequenzen, unsere Augen öffnen.

Ich möchte die Leser kurz in die Vergangenheit zurückführen und anhand eines Beispiels verdeutlichen, wie die gemeinsame friesische Identitätsbehauptung entstanden ist, einerseits durch gegenseitigen Kontakt und wechselseitige Beeinflussung und andererseits durch Interaktion mit den unterschiedlichen nationalstaatlichen Entwicklungen.

Der Sturzpokal

Am 26. Juli 1781 versammelte sich im Hause eines Apothekers in Franeker eine Gesellschaft von jungen Intellektuellen und Bürgern zur zweiten Säkularfeier der Gründung der Republik der Vereinigten Niederlanden. Genau 200 Jahre vorher hatten die Generalstaaten König Philipp II. von Spanien mittels einer formalen Unabhängigkeitserklärung – das „Plakkaat van Verlatinghe“ – abgeschworen. Die sieben aufständischen Provinzen Holland, Zeeland, Gelderland, Utrecht, Overijssel, Friesland und Groningen verabschiedeten sich damit von der Monarchie. Sie hatten den Monarchen – wie das in der Volkssprache jener Zeit hieß – „ausgeläutet“, so wie man jemanden ins Exil schickte oder wie man das alte Jahr am Silvesterabend ausläutete, um eine neue Ära zu beginnen. Die Lossagung wurde damals mit einem Trunk aus einem angeblich speziell für diese Gelegenheit angefertigten Sturzpokal bekräftigt. Die Versammlung in Franeker 1781 ging – wohl aufgrund sozialkritischer Lektüre zur zeitgenössischen Trinkkultur – davon aus, dass der gläserne Pokal, mit dem sie nun „einen ruhigen Toast“ ausbrachten, derselbe war. Der Sturzpokal hatte die Form einer Freiheitsglocke und wurde deshalb Ausläuter (uitluider) genannt, womit er allerdings zugleich die Bedeutung einer Schandglocke, die den Verbannungsakt bestätigte, bekam. Er wurde der Versammlung durch den Medizinstudent Jan de Vicq Tholen (1761-1809) zur Verfügung gestellt, dessen Familie das zerbrechliche Glas angeblich schon mehr als 100 Jahre in Verwahrung hatte. Man wusste allerdings nicht, dass diese hochwertigen Pokale venezianischen Stils durch die Firma Pasquetti in Antwerpen in größerer Zahl und unterschiedlichen Modellen fabriziert worden sind. Das Monopol der Italiener war in seiner Zeit umstritten, weshalb der Magistrat der aufständischen Stadt Middelburg 1581 einem Konkurrenten der Pasquettis ein ähnliches Privileg gewährte. Die Überlieferung zum Gebrauch der Sturzpokale kann also schon frühzeitig mit der Geschichtsschreibung des niederländischen Unabhängigkeitskrieges verzweigt worden sein.

Das Recht, die Glocken läuten zu dürfen und damit eine Volksversammlung einzuberufen, gehörte zu den traditionellen Privilegien freier Dörfer und Städte. Das Glockengeläut wird – zusammen mit Hörnerschall und Biikebrennen – bereits in spätmittelalterlichen Quellen erwähnt. Die Glocken wurden nicht nur in Notfällen geläutet, man konnte mit dem Läuten eine Notlage auch symbolisch darstellen oder sogar einen Aufruhr inszenieren. Das traditionelle Sankt Thomas- und Silvesterläuten, das sich trotz kirchlichen Widerstands in vielen west- und ostfriesischen Dörfern (bis hinein ins Jeverland) bis ins 19. Jahrhundert erhalten hat, gab häufig Anlass zu karnevalesken Ausschreitungen, die bisweilen – sobald die Behörden intervenierten – in einer öffentlichen Revolte enden konnten. Der Sturzpokal in der Form einer Freiheitsglocke war somit zugleich ein Symbol berechtigten Widerstands gegen eine Regierung, deren Legitimität in Frage gestellt wurde.

Das Ausbringen des Trinkspruchs, der angeblich auf das Gemeinwohl abzielte, war dagegen das Ergebnis einer neuen politischen Form, die über das überlieferte Zutrinken, das der Bekräftigung traditioneller Sozialverbände und Hierarchien dienen sollte, hinausging. Diese erprobten „Riten der sozialen Vertrautheit“ in Familienfeiern, Zünften und Korporationen (so Simon Schama) waren vor allem in England und den Niederlanden weit verbreitet. In den Wasserverbänden und Sielachten hat man von jeher wertvolle Ehrenbecher verfertigen lassen, deren Bezeichnung als Hansebecher (hensbekers) auf eine ständische Selbstzuordnung schließen lässt. Im privaten Leben waren im ganzen Küstenbereich die silbernen Branntweinschalen beliebt. Wo diese traditionellen ständischen Repräsentationsformen jedoch die Gemeinschaft verkörperten oder damit tendenziell zusammenfielen, wurden am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Umrisse einer neuen Vertretungsrepräsentation sichtbar, in der die Akteure im Namen und Interesse des ganzen Landes handelten.

Die Geschichte erwähnt nicht, worauf man in Franeker den Trinkspruch ausgebracht hat. Es lässt sich aber kaum anzweifeln, dass er die Freiheit des Landes betraf, und dass es der friesische Stadthalter Wilhelm V. war, den man gern ausläuten wollte. Der ehemaliger Medizinstudent und der Apotheker beteiligten sich später an einem patriotischen Freikorps. Der Apotheker Cornelis van Rees (1739-1812) wurde nach dem durch Preußen initiierten konservativen Staatsstreich von 1787 verhaftet und später des Landes verwiesen, der Arzt Jan de Vicq Tholen floh nach Altona und siedelte sich später in Husum als Stadtarzt an, wo er 1809 starb. Er wurde vor allem durch seinen Einsatz für die Pockenimpfung bekannt, beteiligte sich aber auch rege am sozialpolitischen Leben der nordfriesischen Kleinstadt. Aus einem Bericht von 1792 geht hervor, dass er seine Mitbürger davon zu überzeugen versuchte, dass die Kultur der West- und Nordfriesen „in den Sitten und nicht weniger auch in der Sprache“ weitgehend übereinstimmte. Aufsehen erregte er nicht allein durch seine Fachkenntnis, sondern auch wegen seiner kühnen Ideen und seines extravaganten Kleidungsstils. Seine Stellung war dennoch weithin unumstritten, was vielleicht auf politische Rückendeckung durch seinen Stadt- und Gesinnungsgenossen Gadso Coopmans (1746-1810), der als Medizinprofessor in Kopenhagen und Kiel lehrte, schließen lässt. Dessen Wahlspruch „nec dominus, nec servus“ (weder Herr noch Sklave) verkörperte den aufgeklärten Freiheitsbegriff, den die Exilanten mit in ihre neue Heimat brachten.

Mehrdeutigkeit

Es würde zu weit führen, das Erbe des früh verstorbenen Arztes und seines politischen Freundeskreises für das Aufkommen eines gemeinfriesischen Selbstverständnisses in Nordfriesland verantwortlich zu machen. Doch lässt sich bereits anhand dieses Beispiels vermuten, wie intensiv die gegenseitigen Kontakte damals waren und wie berechtigt es schien, die Eigenart der Küstenkultur im Unterschied zu den Binnenregionen zu sehen. Nicht allein Walfänger, Schiffer und Kaufleute, sondern auch freikirchliche Bürger, Intellektuelle, Handwerker und Lehrer vermittelten allerhand Kenntnisse und neue Verhaltensmuster aus anderen Gegenden. Die Eigenheit der Küste wurde wohl an erster Stelle als eine lokale Besonderheit gesehen. Es waren aber gerade diese neuen bürgerlichen Eliten, deren Schicksal mit dem aufkommenden Nationalstaat verbunden war, welche die neuen Bilder benutzten, um eine Verbindung zu weiteren Schichten der Bevölkerung herzustellen. Sie bedienten sich der Sprache der friesischen Freiheit, durchweg mit nationalen Freiheitsidealen und regionsübergreifenden Identifikationsmustern verknüpft, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Diese bestanden vor allem aus den Großbauern, einer halbbäuerlich-bürgerlichen Elite, die – reich geworden durch Kontinentalsperre und vorherige Exportkonjunktur – in fast allen Küstendörfern von den Niederlanden bis hinauf nach Schleswig-Holstein das Sagen hatte. Der Kreis wurde noch ergänzt durch erfolgreiche Kaufleute, Kapitäne und Kommandeure. Die ländlichen Eliten eigneten sich diese neu definierte Freiheitsideologie, die weit über ihre alten Vorrechte, Privilegien und Freiheitstraditionen hinausging, zur Vertretung ihrer eigenen Interessen an.

Die neuen Freiheitsgedanken lassen sich schon bald in den Quellen finden. Bereits 1795 schrieb etwa der Gardinger Rektor Friedrich Carl Volckmar (1766–1814), dass in seiner Heimatregion von jeher „eine Art von Freiheit und Gleichheit“ vorherrsche, die man sonst kaum findet. Sein „Versuch einer Beschreibung von Eiderstädt“ wurde in einer beträchtlichen Auflage gedruckt und von vielen Großbauern gekauft. Auch de Vicq Tholen gehörte zu den Subskribenten. Im Groningerlande war es der patriotisch gesinnte Großbauer und Parlamentarier Geert Reinders (1737–1815), der 1800 voller Stolz schrieb, dass er und seine Standesgenossen „freier als sonst wo auf der Welt“ waren.

Freiheit ist bekanntlich ein weiter Begriff. Er enthält eine Mehrdeutigkeit, die er etwa mit den Begriffen Landschaft, Repräsentation und Sprache gemeinsam hat. Alle vier führen uns tief in eine materielle, kulturelle und soziale Realität, in der sich ein Netz von sozialen Beziehungen um die Studienobjekte legt. Die Landschaften der Küste beschränken sich nicht auf ihr materielles Dasein, sie bilden – etwa in der Naturbelebung oder der Landschaftsmalerei – ebenfalls eine Inszenierung, eine Darstellungsform, die ihre Umgebung deutet und deren Wahrnehmung überformt. Und der Terminus verweist – wie Kenneth Olwig angeführt hat – schließlich auf einen sozialpolitischen Raum, auf die quasi-autonomen politischen Landschaften der Frühmoderne, also auf jene institutionellen Gebilde, um welche die unterschiedlichen Akteure des Küstenraumes ihre sozialen Netze knüpften.

Bei der Repräsentationskultur der Küstenmarschen handelt es sich nicht allein um die Fülle an materiellen und immateriellen Objekten, um Sturzbecher und Trinksitten, also um das Substrat eines Luxuskonsums, mit dem die führenden Kreise sich gegenüber ihrer Umgebung auszeichneten. Es zählen dazu auch subjektive Vorstellungen, Identitätsbilder und Selbstdarstellungen, die sich durch solche Objekte repräsentieren lassen. Und letztendlich geht es um die öffentliche Vertretung dieser Gegenstände und Symbole, um den sozialpolitischen Prozess, um den Repräsentationsraum, in dem die Bilder überformt werden und die Gegenstände ihre Wirkungskraft bekommen. Es geht um die öffentliche Arena, in der die eigenen Anforderungen mit jenen der anderen in Konkurrenz treten und wo sie kapitalisiert werden.

Auch die Sprache ist – wie die Semiotiker uns gelehrt haben – sowohl ein formales Zeichensystem als auch ein imaginärer Raum, in dem unsere Gedanken sich entfalten. Darüber hinaus ist sie Teil eines Spielfeldes, auf dem Menschen unterschiedlicher Sprachkompetenz einander begegnen und sich bemühen, sich gegenseitig verständlich zu machen oder auch ihre Meinung gegenüber anderen durchzusetzen. Die friesische Sprache ist deshalb wohl niemals eine Selbstverständlichkeit gewesen, sondern eher eine praktische Realität, die sich nur provisorisch mit anderen kulturellen Elementen verband.

(Fortsetzung folgt)

Over Otto S. Knottnerus

Historisch-socioloog / grensoverschrijdend historicus
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